Psychische Belastungen in sozialen Dienstleistungsberufen
Lachen ist ansteckend. Mit der Psyche ist das so eine Sache und bei der Arbeit sowieso. Es waren ca. 60 Teilnehmer der diesjährigen BAG-UB Fachtagung im November in Suhl, die sich den Workshop „Psychische Belastungen“ ausgewählt hatten und es genauer wissen wollten. Eine ihrer Fragen war z. B., wann ein Zuviel an Arbeit zu viel ist und was es bringt, die seit Oktober 2013 im § 5 ArbSchG vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen durchzuführen. Doch eins nach dem anderen.
Wenn ich an den Arbeitsalltag von Mitarbeitern in Integrationsfachdiensten, Berufsförderungswerken, Jobcentern oder ähnlichen Einrichtungen denke, kommt mir das Bild tellerdrehender Akrobaten in den Sinn. Sie verzeihen hoffentlich diesen Vergleich. Das „Kunststück“ besteht darin, alles in der Luft zu halten und nichts und niemanden fallenzulassen. Multitasking sozusagen und zwar pronto und – bitte schön! – immer souverän. Denn Kostenträger und Klienten haben schließlich keine Zeit zu verlieren. Das in die Beratung gesetzte Vertrauen erlaubt keine Unsicherheiten, es braucht vielfach aufmunterndes Lächeln, egal wie schicksalshaft verfahren die Situationen und Befindlichkeiten in der Beratung sind.
Sie wissen es selbst: Multitasking, die Anforderung, eigene Emotionen zu kontrollieren, Entscheidungsdruck, Arbeitsdichte, Zielkonflikte aus konkurrierenden Auftragslagen, ständige Unterbrechungen oder die vorprogrammierte Unmöglichkeit, in seinem Job „Erfolg“ zu haben, verursachen Stress. Wenn dann dazu noch die eigene Ambivalenz kommt, ob man den persönlichen Ansprüchen genügen kann, sind gesundheitliche Problem vorprogrammiert. Gesundheits- und Arbeitswissenschaftler und die neuesten Forschungsergebnisse der Neurobiologie belegen die Wirkungen dieses Nervencocktails. Auch die steigenden Fallzahlen psychischer Erkrankungen in sozialen Dienstleistungsberufen sprechen Bände.
Doch ob und wie ausgeprägt diese Belastungen im Einzelfall eine ernste psychische Beanspruchung auslösen, hängt von einer Vielzahl betrieblicher und individueller Faktoren ab. Mitarbeiter, die mit einer ordentlichen Portion innerer Distanz, quasi in einer Art unsichtbaren Reinraum- oder Astronautenschutzkleidung am Werke sind, haben kein Problem. Die fühlen sich dann wahrscheinlich so, als liefe den ganzen Tag schon das Vorabendprogramm im Fernsehen.
Mitarbeiter, die auf jede Menge innerer und äußerer Ressourcen zugreifen können, stecken ebenfalls nervliche Belastungen besser weg. Ressourcen sind zum einen die persönliche Widerstandsfähigkeit und zum anderen der Rückhalt aus dem sozialen Umfeld. Dazu gehört insbesondere der Chef, der einem mehr oder weniger „zumindest emotional“ den Rücken freihalten kann. Der Vorgesetztenfaktor allein bewirkt laut aktuellen Studienergebnissen eine enorme Stressreduktion von zwischen 20 und 40 Prozent. Wenn man dann noch das Glück eines wertschätzenden Selbst-, Team-, Freundeskreis- und Familienklimas genießt, wirkt das Umfeld wie ein Super-Airbag. Ein Rundumschutz sozusagen für den Fall, dass man in einem Riesenrad unterwegs ist und sich ein bisschen agiler bewegen mag, als es ein Astronautenanzug zulässt.
Nun zurück zur Eingangsfrage, ob „die Psyche“ ansteckend ist. Irgendwie ein bisschen schon. Es heißt ja auch, Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen Du die meiste Zeit verbringst. Einer jüngeren Studie mit Studenten zufolge ist es die Art zu denken, die Menschen gegenüber einer Depression anfälliger macht. Das Denken färbt auf andere ab. Die Forschung der Psychologen Gerald Haeffel und Jennifer Hames von der Universität Notre Dame, USA, zeigte bspw. im Jahr 2013, dass Menschen, die negativ auf stressende Lebensumstände reagieren und Ereignisse als Resultat von Faktoren interpretieren, die sie nicht ändern können, anfälliger für Depressionen sind. Das deckt sich mit anderen Forschungsergebnissen der Resilienzforschung, die sich damit befasst, die Gründe innerer Widerstandsfähigkeit und psychischer Gesundheit zu ergründen.
Wissenschaftlich belegt ist, dass Resilienz nicht, wie man früher dachte, ein Bündel an Persönlichkeitsmerkmalen ist, die einem in die Wiege gelegt werden oder nicht. Widerstandsfähigkeit ist von einzelnen Menschen und Organisationen jederzeit und in jeder Lebenssituation erlernbar.
Und jetzt kommt‘s: Weil das so ist, ist die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung so wichtig und eine große Chance für die Qualität der Arbeit in sozialen Dienstleistungsberufen! Systemisch betrachtet kann nur derjenige, der selbst in einer guten gesundheitlichen Verfassung ist, Gutes tun. Bei Angst und extremem Stress können Durchtrainierte die Muskeln hervorragend für die Flucht, einen Angriff oder das Totstellen einsetzen. Das Gehirn dagegen befindet sich in einem Zustand, als wäre es mit einem Klammerbeutel gepudert. Zuviel Anspannung bewirkt, dass die soziale Interaktion nicht mehr gelingt. Und schon befinden wir uns in einer Überforderungsspirale, die sich gewaschen hat.
Die jetzt von allen Betrieben durchzuführende Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen zielt nicht darauf ab, den Stress aus der Arbeit zu verbannen, sondern Fehlbelastungen und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit, unser Kommunikationsverhalten und unsere Leistungsfähigkeit zu vermeiden. Wie funktioniert sie nun, diese zusätzliche Gefährdungsbeurteilung, die der Gesetzgeber im § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) fordert? Das ist eigentlich ein Thema für sich, deshalb hier nur ganz kurz: Die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung verläuft ähnlich wie eine medizinische Intervention. Am Anfang steht die Diagnose – und auch sowas wie Hypothesen zu Ursachen und Wirkungen. Wir erheben die besonderen Belastungen, also die Stresstreiber und die Ressourcen, die Kraftspender im Betrieb mit geeigneten arbeitspsychologischen Instrumenten. Erkenntnisse über eine Arbeitsorganisation können quantitativ durch eine Mitarbeiterbefragung oder qualitativ durch Arbeitssituationsanalysen bzw. durch eine Kombination der Verfahren gewonnen werden.
Wichtig ist, und das ist das wesentliche Qualitätskriterium für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, dass die Mitarbeiter als Experten ihrer Arbeitssituation bei der Diagnostik und Maßnahmenplanung einbezogen werden. Das Ganze soll aber (vor allem wegen der kognitiven Ansteckungsgefahr!) nicht in einem Jammertal enden, sondern mit wissenschaftlich fundierten Methoden Mitarbeiter aktivieren. Deshalb ist es angeraten externe Experten einzubeziehen. Die gesetzliche Vorschrift besagt, dass eine Gefährdungsbeurteilung nur dann ordnungsgemäß umgesetzt ist, wenn Maßnahmen ergriffen und deren Erfolg wiederum geprüft werden. Ein interessanter Lernzyklus für Betriebe und Mitarbeiter, den wir auch schon aus dem Qualitätsmanagement kennen.
Vorausgesetzt, die Entscheider im Betrieb wollen mehr als die „lästige gesetzliche Pflicht“ erfüllen und erkennen das (wirtschaftliche) Potenzial, so lassen sich mit der Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen alle wissenschaftlich evaluierten Resilienzfaktoren stärken. Ganz besonders diese fünf:
- Akzeptanz: Die Gefährdungsbeurteilung psychische Belastungen lässt erkennen, was in unserer Arbeitsumwelt und an der Zusammenarbeit veränderbar und was nicht veränderbar ist. Mit Schlechtwetterlagen, die sich nicht vermeiden lassen, lernt man umzugehen – und zwar auf der Ebene der Verhältnisse (z.B. betrieblicher E-Mail-Knigge) und auf der Ebene des Verhaltens (nur einmal am Tag alle E-Mails lesen und sofort bearbeiten).
- Realistischer Optimismus: Das ist eine ganz wichtige Ressource für Betriebe, in denen Integrationsarbeit geleistet wird. Hilfreich ist die Prüfung der Ziele, das Thematisieren der Endlichkeit sowie Rituale, die das Erreichte würdigen. Eine jährliche Arbeitssituationsanalyse mit dem ganzen Team bringt alle auf Kurs.
- Lösungsorientierung: Maßnahmen vereinbaren, festlegen woran man Erfolg messen wird und besprechen, WOFÜR man etwas tut, ist auf der kognitiven Ebene hochansteckend.
- Selbstwirksamkeit: Es gibt viele Möglichkeiten, Veränderungen herbeizuführen, auch wenn es manchmal nur Mini-Schritte sind. Mehr Planbarkeit oder weniger Arbeitsunterbrechungen, irgendwas geht immer!
- Netzwerkorientierung: Mitarbeiter werden zu Beteiligten gemacht, entlasten sich gegenseitig, teilen Wissen und erleben die Stärke eines Teams.
Inzwischen wird die Sinnhaftigkeit der Qualitätssicherung bei Produkten und Dienstleistungen nicht mehr hinterfragt, sondern wie das Zähneputzen in jedem Betrieb einfach getan. Mit der Mitarbeitergesundheit wird es hoffentlich auch irgendwann einmal so sein. Wenn Wirtschaftlichkeit die eine Seite der Medaille ist, ist Gesundheit die andere. Ein bisschen mehr dieser Denke und förderliche Seilschaften in der Sache wünsche ich dem kommenden Jahr des Feuer-Affen… und übrigens, Tschüss Jahr des Schafes (die Gewerbeaufsichtsämter prüfen seit September 2015)!
Presseartikel, erschienen in der IMPULSE (Fachzeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft für unterstützte Beschäftigung BAG UB) 12/2015